"Was mich ein Besuch in Berlin über Mauern lehrte"

Veröffentlicht am Donnerstag, 22. Mai 2025
Berliner Mauer: "Ein Ort, an dem auch die Liebe vom Beton angehalten wurde." (Foto: Mahdia Hossaini)
Berliner Mauer: "Ein Ort, an dem auch die Liebe vom Beton angehalten wurde." (Foto: Mahdia Hossaini)

Auch in Bad Mergentheim leben viele Geflüchtete. Damit deren Integration gelingt, braucht es sowohl Interesse aneinander als auch die Offenheit, sich kennenlernen zu wollen. Gemeinsam mit der städtischen Integrationsbeauftragten Kornelia Perleth möchten wir neben vielen konkreten Projekten und Veranstaltungen auch Raum für Texte geben, damit Geflüchtete ihre Geschichte erzählen können. Und zugleich davon berichten, welche Hoffnungen sie mit Bad Mergentheim verbinden, wie sie sich einbringen möchten und wo sie nach mehr Miteinander suchen. (Teil 5)

Dafür schreibt an dieser Stelle in unregelmäßigen Abständen die afghanisch-stämmige Autorin und Bloggerin Mahdia Hossaini, die im Iran aufwuchs und seit 2023 in der Bad Mergentheimer Kernstadt lebt.  


Was mich ein Besuch in Berlin über Mauern lehrte

Von Mahdia Hossaini

 

Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie das Wort Mauer hören?

Wenn ich vor zehn Jahren gefragt worden wäre,

hätte ich gesagt: Zuhause.

Ein Zimmer.

Eine Ecke, in der ich bei mir sein kann.

Vier Wände, tröstende Arme um mich herum.

Sicherheit.

Geborgenheit.

Das Gefühl, von der Welt gehalten zu werden.

 

Aber dann ...

Dann habe ich alles verloren, was ich kannte.

Dann veränderte sich alles.

Die Welt um mich herum veränderte sich.

Sogar die Bedeutung der Worte änderte sich.

 

Und jetzt ...

bin ich eine Ausländerin.

Eine Fremde.

Ein Gast.

Ein Flüchtling.

 

Und Wände?

Wände stehen nicht mehr für Heimat.

Sie bedeuten: Halt.

Sie bedeuten: nicht für dich.

Sie bedeuten: Du bist draußen.

 

Jetzt schaue ich auf Grenzen.

Hindernisse.

Linien, nicht nur auf Landkarten gezogen,

sondern durch Menschen hindurch.

Durch Familien.

Durch die Seele.

 

Ich träume nicht mehr davon, Mauern einzureißen.

Ich träume von Rissen.

Kleinen Rissen.

Gerade genug für einen Lichtstrahl

Gerade genug, um zu atmen.

 

Man sagte gewöhnlich:

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

Aber die Mauer wurde trotzdem gebaut.

 

Und sie stand

hoch,

kalt,

schweigend.

 

BERLIN,

 

war in meinem Kopf, lange bevor ich jemals einen Fuß hinein gesetzt hatte.

Eine Stadt in Schwarz-Weiß.

Wie Fotos in Geschichtsbüchern.

Ein zerrissener Ort.

Ein Ort, an dem auch die Liebe vom Beton angehalten wurde.

 

Als ich ankam, hatte ich diese Fotos noch im Kopf.

Aber als ich aus dem Zug stieg,

begann sich etwas zu verändern.

Nicht alles auf einmal.

Aber langsam.

Das Grau verflüchtigte sich.

Die Stadt atmete auf.

Farbe ergoss sich über die Schatten.

 

Ich ging natürlich direkt zur Mauer.

Für mich war das nicht Geschichte.

Sie war etwas Persönliches.

Sie war ein Spiegel.

 

Als ich dort stand

unter diesem weiten Berliner Himmel,

schaute ich nicht nur auf die Mauer.

Ich habe sie erlebt.

 

Ich habe die Grenzen erlebt, die ich überschritten hatte,

in meinem Körper,

in meinem Geist,

durch die Bürde, die ich trage.

 

Ich erinnerte mich an an die wachsende Beklemmung an jedem Grenzübergang,

an jede Frage,

an jedes Dokument, das ich vorlegen musste.

Jedes Mal musste ich beweisen, dass ich ein Mensch bin.

 

Und ich erinnerte mich an die Worte der Autorin Christa Wolf:

„Wir sind die Grenze.“

 

Mauern sind nie außerhalb.

Manchmal befinden sie sich in uns,

in unserer Angst,

in unserem Schweigen,

in der Tatsache, dass wir uns manchmal weigern, dem anderen in die Augen zu sehen.

 

Aber selbst diese Mauer,

dieses Symbol der Trennung,

hatte ihre Funktion verändert.

 

Es gab Bilder.

Namen.

Namen, in den Stein gemeißelt in Form von Geschichten.

Es gab Tafeln, die in die Erde eingelassen waren.

Einige mit Namen.

Einige nur mit diesen einfachenWorten:

„Eine Person.“

„Zwei Personen.“

„Eine Person.“

„Zwei Personen.“

 

Es sind einmal Menschen gewesen.

Sie hatten Träume.

Sie hatten jemanden, auf den sie warteten.

Sie waren wie wir.

 

Ein traditionelles deutsches Volkslied sagt:

„Die Gedanken sind frei.“

Das ging mir die ganze Reise über im Kopf herum.

 

Und ich dachte:

 

Vielleicht können Mauern Fenster haben.

Vielleicht können sich Grenzen öffnen, um das Licht hereinzulassen.

Vielleicht muss Sicherheit nicht bedeuten, die Tür zu schließen.

Vielleicht bedeutet Freiheit, gesehen zu werden,

gehört zu werden,

einfach da sein zu dürfen.

 

Also ja...

Lasst uns Mauern bauen, wenn wir müssen.

Aber lasst sie uns menschenfreundlich errichten.

Lasst sie uns mit Türen bauen.

Mit Öffnungen.

Mit Rissen, groß genug, damit die Hoffnung hindurchsickern kann.

 

Denn manchmal,

ist es der kleinste Eingang

durch den die Freiheit kommt.

 

Und das,

das hat mich Berlin gelehrt.

Und ich glaube nicht, dass ich das jemals vergessen werde.

 


Wir alle haben unsichtbare Mauern in unserem Leben. Manchmal stehen wir vor ihnen, manchmal gehen wir durch sie hindurch, manchmal bekommen sie einen Riss, gerade genug, um das Licht hereinzulassen.

Wenn dieser Beitrag Sie an Ihre eigene Erfahrung und Reise erinnert hat, würden wir uns  freuen, davon zu hören.

Nehmen Sie Kontakt auf, wenn Sie dazu bereit sind. Ihre Stimme ist hier willkommen.

integration@bad-mergentheim.de