Offene Türen und ein vergessener Schlüssel

Veröffentlicht am Mittwoch, 2. Juli 2025
Besuch in einer kleinen Kirche der Region. (Bild: Mahdia Hossaini)
Besuch in einer kleinen Kirche der Region. (Bild: Mahdia Hossaini)

Auch in Bad Mergentheim leben viele Geflüchtete. Damit deren Integration gelingt, braucht es sowohl Interesse aneinander als auch die Offenheit, sich kennenlernen zu wollen. Gemeinsam mit der städtischen Integrationsbeauftragten Kornelia Perleth möchten wir neben vielen konkreten Projekten und Veranstaltungen auch Raum für Texte geben, damit Geflüchtete ihre Geschichte erzählen können. Und zugleich davon berichten, welche Hoffnungen sie mit Bad Mergentheim verbinden, wie sie sich einbringen möchten und wo sie nach mehr Miteinander suchen. (Teil 6)

Dafür schreibt an dieser Stelle in unregelmäßigen Abständen die afghanisch-stämmige Autorin und Bloggerin Mahdia Hossaini, die im Iran aufwuchs und seit 2023 in der Bad Mergentheimer Kernstadt lebt. Dies ist ihr vierter Artikel. 


Offene Türen und ein vergessener Schlüssel 

Von Mahdia Hossaini

Ich wurde in Teheran geboren und bin dort aufgewachsen – eine Hauptstadt, eine pulsierende Metropole. Später im Leben fand ich mich mich in einer anderen großen Stadt wieder. Das Stadtleben bestimmte schon immer meinen Rhythmus: Verkehr, Menschen, Energie, Aktivität. Ich kannte nichts anderes. Als das Leben mich dann in eine Kleinstadt in Deutschland verschlug – nach Bad Mergentheim – war das etwas Neues für mich. Ich hatte noch nie in einer Kleinstadt gelebt.

Und dann führte mich meine Reise noch weiter abseits der bekannten Wege – in ein Dorf, so klein, dass es heute nur zweiundzwanzig Menschen als Adresse angeben. Ich wurde von einem Freund eingeladen. Ich erwartete, mich als Außenseiterin zu fühlen. Doch stattdessen geschah etwas Unerwartetes: Ich fühlte mich vollkommen zu Hause.

Ich hatte die Gelegenheit, den Tag mit einem Ehepaar zu verbringen, das seit vielen Jahren in diesem Dorf lebt. Sie empfingen mich nicht als Gast, nicht als Fremde, sondern einfach als Mitmenschen. Von dem Moment an, als ich ihr Haus betrat, ging es nicht mehr um Unterschiede. Es gab Lachen, Witze, Geschichten und ein gemeinsames Staunen. Unsere Leben waren verschieden – ja –, aber das spielte keine Rolle.

Bevor wir unser Dorf erkundeten, geschah etwas, das mich zum Schmunzeln brachte. Die Frau des Hauses suchte einen bestimmten Schlüssel. Sie durchsuchte jede Ecke, jede Tasche – ohne Erfolg. Also nahm sie einen anderen Schlüsselbund, und wir machten uns auf den Weg. Als wir dann an der Dorfkirche ankamen – eine kleine, alte Kirche, umgeben von Stille und Geschichte – fanden wir den gesuchten Schlüssel. Er steckte im Schloss der Kirchentür. Ihr Mann lachte und sagte: „Der steckt da jetzt schon drei Tage.“

Und da war er noch immer. Unberührt, und wartete.

In diesem Schlüssel sah ich etwas Tieferes: ein stilles Vertrauen, eine Lebensweise, die das Unbekannte nicht fürchtet. Ein Dorf, in dem ein Schlüssel drei Tage lang im Schloss stecken bleiben kann, ist ein Dorf ohne Angst. Es öffnet die Arme. Es vertraut. So, wie das Ehepaar mir vertraut hat.

Die Kirche selbst war klein, aber eindrucksvoll. Man konnte fast die Gebete vergangener Generationen auf den Holzbänken spüren. Es war nicht die Größe des Gebäudes, die es bedeutend machte, sondern sein Inneres: klein, unvergänglich, lebendig.

Neben der Kirche schlenderten wir durch den Friedhof. Es gab nicht viele Gräber, aber jedes erzählte eine Geschichte. Und sie kannten diese Geschichten. Sie erzählten mir, wer in dieser Kirche getraut wurde, wer sich – nach einem Leben anderswo – entschieden hatte, hier in dieser friedvollen Erde begraben zu werden. Jemand kam aus Berlin. Jemand anderes war in der Tschechischen Republik geboren.

Diese Geschichten brachten mich zum Nachdenken darüber, wie das Leben uns weit führt – und uns manchmal dorthin zurückbringt, wohin wir es nie erwartet hätten.

Anschließend schlugen sie uns vor, das Haus der Jugendhilfe zu besuchen – ein Kinderdorf für Kinder, die aus verschiedenen Gründen nicht bei ihren Familien leben konnten. Ich sagte zu, ohne genau zu wissen, was mich erwartete. Bei unserer Ankunft begrüßte uns ein freundlicher Mann, obwohl es kurz vor dem Abendessen war – und er sicher anderes zu tun gehabt hätte. Doch er nahm sich Zeit für uns und führte uns freundlich und großzügig herum, als wäre dies das Wichtigste überhaupt.

Wir betraten das Gebäude nicht, aber selbst beim bloßen Herumgehen konnte ich sehen, wie viel Liebe und Fürsorge in jedes Detail geflossen war. Es gab auch einen Garten, in dem die Kinder gemeinsam mit den Tieren arbeiteten. Sie hatten Kaninchen – eine schöne Art, den Kindern Verantwortung und Fürsorge beizubringen. In einem nahegelegenen Stall standen auch Pferde, was ebenfalls einen Eindruck vom verantwortungsvollen Zusammenleben mit Kindern vermittelte.

Es gab Raum zum Spielen, zum Herumrennen, und kreative Ecken für regnerische Tage. Alles – drinnen wie draußen – war auf die Bedürfnisse und das Glück der Kinder abgestimmt. Eine Balance zwischen Freiheit und Sicherheit.

Was mir besonders auffiel, war der Stolz in den Augen unseres Gastgebers. Für ihn war dies nicht einfach ein Heim für sechs Kinder – es war ein Zuhause für die nächste Generation. Ein Ort, an dem Zukunft aus Liebe und Fürsorge entsteht.

Wir gingen weiter, vorbei an Gebäuden und Straßen. Das Ehepaar öffnete Türen  - wirkliche und solche in eine Welt dahinter. Hinter einer Tür standen Werkzeuge, mit denen sie das Land bearbeiten – gebrauchte Geräte mit Charakter. Eine andere Tür führte in den ehemaligen Gastraum ihres Restaurants. Die Frau öffnete sie, und ihre Augen leuchteten vor Erinnerung. Dreißig Jahre hatte sie es geführt. Alles war noch da: der Holzofen, der im Winter Wärme spendete, der Original- Tresen, die Stühle, der Geruch der Zeit.

Als ich durch das Restaurant ging, nahm ich einen hölzernen Flaschenöffner, der auf dem Tresen lag, in die Hand. Einfach, selbstgemacht. Ihr Mann sah mich lächelnd an, nahm ihn und reichte ihn mir.

„Da, ein Bierflaschenöffner“, sagte er. Ich lachte.

„Ich trinke kein Bier.“

Er antwortete: „Aber du kannst eine Colaflasche damit öffnen.“ Wir lachten alle. Diese Erinnerung blieb mir. Wir waren verschieden – aber das war nie ein Hindernis. Im Gegenteil, es war etwas, worüber man lachen konnte. Verschiedenheit war keine Barriere zwischen uns. Und sie machte diesen Tag so erfüllt, reich und authentisch.

Und dann, eine weitere Tür.

Sie führte in einen Keller. Der Mann schaltete das Licht an, und wir stiegen hinab. Es war kühl, erdig, von der Zeit unberührt. Ein Ort, an dem Most und Wein gelagert wurde, wo Kartoffeln die langen Winter überstanden. Es war wie der Schritt in einen Film – oder in eine Erinnerung.

Ein weiterer Augenblick verblüffte mich: Eine letzteTür wurde geöffnet, und ich trat in einen Raum, der wirkte wie ein Foto aus der Vergangenheit. Ich konnte mir vorstellen, wie die Dorfbewohner in der kalten Winterzeit hier, unter diesem Dach, zusammengekommen sind, gemeinsam diesen Raum, der ihnen allen gehörte, schmückten und zusammen Weihnachten feierten.

Meine Freund lachte – aber ich meinte es ernst. Ich wünschte, ich hätte damals gelebt, um Teil dieses Dorffestes zu sein. Der Mann verstand, lächelte und sagte: „Tatsächlich feiern wir hier immer noch – wenn es kalt und regnerisch ist. Hier kommen wir zusammen.“ Ich wünschte mir in dem Moment, dass sie mich einmal eingeladen hätten – einmal, um Teil des Dorfes zu sein, an ihren Traditionen teilzuhaben.

An diesem Abend wünschte ich mir nichts mehr, als einmal über Nacht in diesem Dorf zu bleiben – um die Nacht zu erleben, wenn die Stille des Tages in die Ruhe des Abends über geht, besonders an einem kalten Winterabend. Ich wollte am Kamin sitzen, das flackernde Feuer würde Wärme spenden, und ich die Geschichte meines Lebens schreiben – umgeben von der Ruhe und den Geschichten eines Dorfes, das mich so liebevoll aufgenommen hatte.

Obwohl ich die ganze Zeit über Fotos gemacht hatte, war ich keine Touristin. Ich bewahrte etwas Kostbares. Ich dachte: Falls ich es je vergesse, können mich diese Bilder vielleicht an diesen Tag erinnern – an diesen Frieden, diese Zugehörigkeit, dieses gemeinsame Mensch - Sein.

Denn genau das hat mir dieses Dorf gegeben. Nicht nur Gastfreundschaft, sondern eine stille Einsicht: Man muss nicht aus dem selben Ort kommen, um sich zuhause zu fühlen. Und man muss nicht alles sagen können, um verstanden zu werden.

Mein Deutsch war nicht perfekt. Ich hatte so vieles, was ich sagen wollte – aber die Worte kamen nicht immer. Doch ich war da – mit meinem Herzen, mit meiner ganzen Aufmerksamkeit. Und vielleicht zählte das mehr als Grammatik. Dabei sein genügt manchmal. Manchmal ist es alles.

Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in einer Millionenstadt verbracht. Ich liebe es,viele Menschen um mich zu haben. Ich liebe es, mit Fremden zu sprechen. Für manche ist das merkwürdig, aber so bin ich eben. Ich suche immer nach Brücken, nach Fäden, die uns verbinden. Und in diesem kleinen Dorf fand ich sie überall: im Herzen zweier Menschen, in den Geschichten hinter den Türen, auf dem Friedhof, in einem Lachen, in einem Schlüssel, der im Schloss der Kirchentür steckte und darauf wartete, gefunden zu werden.

Integration ist viel mehr als nur Programme und Maßnahmen. Manchmal ist sie eine Geste. Ein Geschenk. Ein Lächeln. Manchmal ist es jemand, der dir sein Haus öffnet, ohne zu fragen, woher du kommst. Ich kam als Fremde in dieses Dorf – eine Frau aus einer anderen Welt. Aber ich ging mit dem Gefühl, zuhause zu sein. Nicht, weil ich meine Persönlichkeit verändert hätte, sondern weil ich so akzeptiert wurde, wie ich bin.

Vielleicht habt ihr selbst eine Geschichte, die ihr erzählen möchtet. Eine Erinnerung, ein Moment, ein Gefühl. Dann schreibt uns. Unsere E-Mail-Adresse steht offen – so wie die Türen in dem Dorf.

integration@bad-mergentheim.de